Arbeitsmarkt - 11.10.2023

Können Erwerbstätige im Rentenalter den Fachkräftemangel mildern?

Der Schweizer Arbeitsmarkt kämpft zurzeit mit verschiedenen Herausforderungen, die eng miteinander verbunden sind: die Digitalisierung und Automatisierung, der demografische Wandel und der Fachkräftemangel.

Ein Forschungsprojekt der BFH zeigt aktuell verschiedene Wege auf, wie Erwerbstätige im Rentenalter den Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften lindern können.

Prof. Dr. Peter Neuenschwander und Prof. Dr. Jonathan Bennett sind Anprechpersonen dieses Forschungsprojekt der Berner Fachhochschule.

  • Prof. Dr. Peter Neuenschwander promovierte an der Universität Zürich in Politikwissenschaft. Er forscht und lehrt unter anderem zu den Themen Arbeitsintegration und Erwerbstätigkeit im Rentenalter,
  • Prof. Dr. Jonathan Bennett promovierte an der Universität Zürich in Psychologie. Er forscht und lehrt zur Erwerbstätigkeit im Rentenalter und weiteren Themen der alternden Gesellschaft.

 

Der Fachkräftemangel in der Schweiz hat nach der Bewältigung der Corona-Pandemie einen historischen Rekordwert erreicht. Der Fachkräftemangel-Index liegt 68 Prozent über dem Vorjahreswert. Wie schon in den Vorjahren ist der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen und in der IT-Branche besonders ausgeprägt. Auf Rang drei liegen die Industrieberufe. In dieser Branche konnte im letzten Jahr ebenfalls eine markante Verschärfung des Fachkräftemangels festgestellt werden (Adecco Group, 2022). Dies ist unter anderem den Megatrends der Digitalisierung und des demografischen Wandels geschuldet, die sich in der Arbeitswelt besonders stark bemerkbar machen.

Herausforderung Digitalisierung

Durch die Digitalisierung und Automatisierung werden sich viele Berufsbilder verändern oder ganz verschwinden, andere hingegen entstehen neu. Um die Merkmale in der digitalen Transformation zu beschreiben, wird oft von der sogenannten VUCA-Welt gesprochen: volatility, uncertainty, complexity, ambiguity – auf Deutsch: Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität, Mehrdeutigkeit (Moskaliuk, 2019). Die VUCA-Welt fordert die Unternehmen auf verschiedenen Ebenen heraus. Sie sollten in der Lage sein, auf ständig wechselnde wirtschaftliche Rahmenbedingungen produktiv reagieren zu können, und sie sind darauf angewiesen, dass ihre Beschäftigten auf allen Stufen ein hohes Mass an Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft aufweisen.

Deshalb ist es wichtig, dass Unternehmen die Sozial- und Selbstkompetenzen ihrer Belegschaft fördern. Dazu zählt auch die Stärkung der Resilienz der Mitarbeitenden. Wenn der Umgang mit neuen Technologien und der hohen Kadenz von Change-Prozessen als chronischer Stress empfunden wird, führt dies zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Insgesamt nehmen die Anforderungen an Beschäftigte im Zuge der Digitalisierung zu, der Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften steigt (Bennett et al., 2021).

Herausforderung demografischer Wandel

Eine langanhaltende geringe Geburtenzahl bei gleichzeitig angestiegener Lebenserwartung hat unsere Gesellschaft insgesamt älter werden lassen. Bei einer stabilen Wirtschaftslage hat diese demografische Entwicklung zur Folge, dass die Zahl der Arbeitnehmenden und der Fachkräfte nicht dem Bedarf auf dem Arbeitsmarkt entspricht. Dies führt bei den Unternehmen zu steigenden Kosten und einer aufwändigeren Suche nach Mitarbeitenden (Grünenfelder & Müller, 2017). Mit dem Eintritt der Babyboomer in das Rentenalter ist der demografische Wandel endgültig im Arbeitsmarkt angekommen. In den nächsten zehn Jahren treten zahlreiche Arbeitskräfte aus dem Arbeitsprozess aus und müssen adäquat ersetzt werden. Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen auf die Finanzierung der Altersvorsorge, insbesondere der AHV. So nimmt die Anzahl der Rentenempfänger*innen mit einem langen Rentenbezug deutlich zu. Die Zahl der Beitragszahlenden hält damit nicht Schritt und die Finanzierung der Renten muss politisch neu ausgehandelt werden.

Der demografische Wandel führt also zu einer Verschärfung des Fachkräftemangels. Von dieser Entwicklung sind jedoch nicht alle Branchen gleichermassen betroffen. Die branchenspezifischen Unterschiede können mit den unterschiedlichen Altersstrukturen erklärt werden. Besonders betroffen ist das Gesundheitswesen, in dem über 28 Prozent der Beschäftigten über 50 Jahre alt sind. Im Gegensatz dazu sind in der vergleichsweise jungen IT-Branche weniger als 22 Prozent der Beschäftigten über 50-jährig (Wunsch & Buchmann, 2019).

Der Wunsch, im Rentenalter weiterzuarbeiten

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen gewinnt die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Menschen im Rentenalter immer mehr an Bedeutung. Dies auch deshalb, weil heute mehr Menschen als je zuvor auch nach dem Erreichen des Rentenalters die gesundheitlichen und fachlichen Voraussetzungen für eine fortgesetzte Erwerbstätigkeit erfüllen. Im jährlich durchgeführten Barometer «Gute Arbeit» gaben im Jahr 2021 zwölf Prozent der über 45-jährigen Arbeitnehmenden an, nach ihrer Pensionierung auf jeden Fall weiterarbeiten zu wollen. Weitere 31 Prozent möchten dies eher tun. Personen, die nach ihrer Pensionierung weiterarbeiten möchten, sind also ungefähr gleich häufig wie Personen, die sich das nicht vorstellen können (Fritschi & Kraus, 2021). 

Warum möchten die Befragten nach ihrer ordentlichen Pensionierung weiterarbeiten? Die häufigsten Gründe dafür sind der Spass an der Arbeit und das Gefühl, fit und gesund zu sein. Zwei Drittel der Befragten geben an, dass sie finanziell auf die Weiterarbeit angewiesen sind. Wer nach der Pensionierung lieber nicht weiter erwerbstätig bleiben möchte, gibt als häufigsten Grund an, dass er oder sie Zeit für andere Dinge verwenden möchte. Rund ein Drittel fühlt sich gesundheitlich nicht in der Lage weiterzuarbeiten. Insgesamt kann festgestellt werden, dass das Potenzial an erwerbsfähigen und motivierten Personen im Rentenalter noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Ein Forschungsprojekt gibt Gegensteuer und liefert Fakten

Die Entscheidung, ob eine Person ihre Erwerbstätigkeit nach der Pensionierung weiterführen will oder nicht, hängt somit von verschiedenen individuellen Faktoren ab. Dies zeigt eine systematische Literaturanalyse, die im Rahmen des Forschungsprojekts «Erwerbstätigkeit im Rentenalter» des Instituts Alter und des Instituts Soziale Sicherheit und Sozialpolitik durchgeführt wurde. Zu den individuellen Faktoren gehören das soziale Umfeld, die finanzielle Situation, die persönliche Arbeitsgestaltung, der Gesundheitszustand sowie frühere Lebensentscheidungen, zum Beispiel eine Familiengründung oder Weiterbildung. 

Das von swissuniversities finanzierte Forschungsprojekt legt einen besonderen Fokus auf die Ingenieurberufe. Diese Berufsgattung ist vom Fachkräftemangel besonders stark betroffen und zeichnet sich durch eine geringe berufliche Mobilität aus: Ingenieur*innen verfügen über eine sehr spezifische Ausbildung und bleiben ihrem angestammten Berufsfeld oft treu. Das Potenzial für Quer­einsteiger*innen ist gering. Dies macht eine weitere Erwerbstätigkeit über das ordentliche Pensionsalter hinaus umso bedeutsamer. Anhand von Fallstudien verschiedener Ingenieurberufe werden hier bestehende Good Practices der Weiterbeschäftigung im Rentenalter beleuchtet. Es werden Hürden aus Mitar­beitenden- und Arbeitgebersicht identifiziert. Zusätzlich werden konkrete Handlungsempfehlungen für Arbeitgebende formuliert und Vorschläge an politische Entschei­dungs­trä­ger*in­nen herangetragen. 

Gesetzesreformen und Öffentlichkeitsarbeit nötig

Doch die Erwerbstätigkeit im Rentenalter wird nicht nur von individuellen Voraussetzungen und arbeitgeberseitigen Rahmenbedingungen geprägt, sondern sie hängt auch von gesetzlichen Regelungen im Bereich der AHV und der beruflichen und privaten Altersvorsorge ab (Braun-Dubler et al., 2022). Hier gilt es einiges zu beachten, wenn man ohne finanzielle Einbussen im Rentenalter erwerbstätig sein möchte. 

Zwar schafft die Rentenreform AHV 21neue Kombinationsmöglichkeiten von Erwerbstätigkeit und Rentenbezug, doch die gesetzlichen Möglichkeiten dürften dadurch noch nicht ausgeschöpft sein. Mittels einer mehrstufigen Befragung internationaler Expert*innen und dreier Fallstudien will das Projekt aufzeigen, mit welchen staatlichen Massnahmen und gesetzlichen Rahmenbedingungen andere Länder die Erwerbstätigkeit im Rentenalter fördern. Dies soll ermöglichen, weitere konsensfähige und für die Schweiz zugeschnittene Reformoptionen zu identifizieren. 

Schliesslich hat das Projekt bereits einen Beitrag zur Sichtbarmachung des Themas in der Öffentlichkeit geleistet. In Zusammenarbeit mit Loopings und SIBA – Soziale Innovation Bern fand im Oktober 2022 im Berner Generationenhaus das Festival «Your Stage» zum Thema Arbeitswelten 60plus statt. Es inspirierte über 260 Personen mit einem vielfältigen Programm mit Workshops, Podiumsdiskussionen und Kurz-Coachings. Im kommenden Jahr ist eine Neuauflage des Festivals geplant.

 

Studientyp und Methodik

Evaluation

Ansprechpartner:in für diese Studie

Prof. Dr. Peter Neuenschwander

Projektleiter und Dozent Berner Fachhochschule

Peter Neuenschwander ist anerkannter Fachexperte und Autor wissenschaftlicher Studien im Themenspektrum focus50plus.

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